Die amerikanischen Nationalparks erfreuen sich weltweiter Bekanntheit. Es gibt kaum jemanden, der noch nie vom Grand Canyon, oder vom Monument Valley gehört hat. Es mag zwar nicht verwunderlich sein, dass es in einem Land wie den USA Orte gibt, die schwer ohne Auto zu erreichen sind (bzw. ohne jemanden, der einen in seinem Auto ein Stück mitnimmt). Dass in dieser Autofahrernation aber gewisse Orte – bezüglich der Beschilderung – völlig übergangen werden, sorgt dafür schon für einige Verwunderung. Die Rede ist vom Monument Valley. Die Navajo sind – aufgrund weitestgehend bekannter geschichtlicher Begebenheiten – nicht besonders gut auf die Amerikaner im Allgemeinen zu sprechen. Daher haben Sie wohl beschlossen das Monument Valley unter eigener Regie als Nationalpark zu führen, und die erwirtschafteten Einnahmen ebenfalls selbst zu verwalten. Grund genug für die Amerikaner, dieses Naturwunder beschilderungstechnisch totzuschweigen. Gefunden habe ich es aber trotzdem. Oder, besser gesagt, ich habe die mit 150 Meilen am nächsten gelegene Greyhoundstation in Farmington erreicht. Und hier beginnt eine der bizarrsten Tramp-Etappen, an die ich mich erinnern kann.
Ein homosexueller Navajo mit seinem Pick-Up fragt mich nach ein paar Minuten, ob ich mit ihm Cowboy und Indianer spielen möchte. (Ja, es gibt auch schwule Indianer.) Ich lehne freundlich aber bestimmt ab, Thema erledigt, er nimmt mich noch ein Stück mit bevor er abbiegt. An der nächsten Tankstelle mitten in der Prärie gabelt mich ein alter Mexikaner auf. Sein Wagen fällt fast auseinander, ebenso wie sein Mobile Home und die kompletten anderen Wohnwagen in dem Trailerpark zu dem er mich bringt. Er stellt mich seiner kompletten Familie, den zwei Frauen, den sieben Kindern und was weiß ich wem noch alles vor, und ich bekomme etwas zu essen. Die Menschen sind zwar freundlich, und die wüstenartige Landschaft um den „Shiprock“ benannten Felsen traumhaft, trotzdem will ich weiter. Und in dem Moment als ich mich wieder an die Straße stelle muss ich ein Wurmloch durchschritten haben, oder die Zeit um gut 25 Jahre zurückgesprungen sein.
Es hat gut 38 Grad, die Luft flimmert, und die Straße führt endlos gerade aus bis zum Horizont. Und genau aus diesem flimmernden formlosen Streifen inkarniert plötzlich ein monströses Wohnmobil, das irgendwann einmal weiß gewesen sein muss. Die Federung hat wohl schon bessere Zeiten gesehen, das Teil schwankt gemütlich die Straße entlang, und bleibt direkt vor meiner Nase stehen. Die Tür öffnet sich, und aus einer Rauchsäule heraus grinsen mir zwei Augen und eine breite Zahnreihe entgegen. „Wohin?“ „Monument Valley.“ „Peace Bruder, steig ein.“ Gut, die Richtung stimmmte, und alles andere war ja erstmal nebensächlich. Und da war ich: es war 1969, und wir waren auf dem Weg nach Woodstock. Anders kann es nicht gewesen sein. Das ganze Wohnmobil bestand aus Federn, Farben, Glöckchen, Perlen, Greateful Dead Plakaten, zwei Hunden, und drei Hippies.
Ein dicker Kerl (so dick, dass es eigentlich schon zwei waren), komplett in Batikkleidung hinter dem Lenkrad.
Ein drahtiger Mexikaner (die Zähne und die Augen vom Anfang) Marke Speedy Gonzalez, und Aimee. Und was soll ich sagen, Aimee sah aus wie eine Aimee eben aussieht wenn sie auf dem Weg nach Woodstock ist. Schlanke Erscheinung im Batikkleid, vermutlich nichts drunter, po-lange braune Haare mit Blümchen, und Pupillen, bei denen ich nicht wissen wollte in welcher Farbe sie mich gerade wahrnahm.
Der Dampf kam zu einem Teil davon, dass Aimee gerade Rührei mit Speck zubereitete, zum anderen Teil von der imposanten Haschpfeife des Fahrers. Nachdem mir nun Speedy (ich habe keine Ahnung wie er wirklich hieß) seine sämtlichen Kostbarkeiten wie Glaskugeln, Federn, indischen Krimskrams und so weiter gezeigt hatte, die Hunde gefüttert waren, und die beiden Fahrer die eigentlich einer waren (oder anders herum) ihre Pfeife fertig geraucht hatten gab es Rührei und Kaffee für alle.
Ich habe keine Ahnung wie lange ich in dieser Zeitblase des Jahres 1969 festsaß (es hätte gerne noch länger sein dürfen, die drei waren einfach zu genial). Jedenfalls mussten sie irgendwann abbiegen, und ich trat durch die Tür des Wohnmobils hinaus, zurück ins Amerika von heute, nur noch wenige Kilometer vom Monument Valley entfernt.
Können Sie sich erinnern, wie ich weiter vorne in diesem Buch das Reisen mit einem guten Essen verglichen habe? Das hier ist so ein Moment gewesen, der für das ganz besondere Aroma sorgt. Es gibt eine ganze Menge Reiseerlebnisse, an die ich mich erinnern kann, als wäre es gerade eben erst passiert. Dieses gehört ohne Zweifel zu den Favoriten, schon alleine wegen diesen drei ganz speziellen Typen, und der Atmosphäre die sie versprühten.
Und ich war ja immer noch nicht da. Es müssen noch ungefähr 20 Kilometer bis zum Monument Valley gewesen sein. Während ich an der Straße entlanglaufe hält neben mir ein leerer Bus. Die Tür ist wegen der Hitze geöffnet, und der Fahrer – ein Navajo – grinst mich an. Woher ich komme? Deutschland. Er grinst noch mehr. Das Land mit den hübschen Frauen! Wo ich hin will? Monument Valley. Ich soll einsteigen.
Während wir fahren erklärt er mir, dass er mit diesem Bus Touristen morgens ins Valley bringt, und abends wieder zurück zu den Hotels oder Busterminals. Er hätte gleich so eine Ahnung gehabt, dass ich kein Amerikaner sei, denn dann hätte er mich überhaupt nicht mitgenommen, und wenn, dann nur gegen bare Münze. (Hatte ich das Verhältnis der Navajo zu den Amerikanern schon erwähnt? Ich denke doch.) Wir reden und reden, und bis ich es richtig merke fahren wir schon auf die Eingangsschranke zum Valley zu. Ich soll mich klein machen, damit mich sein Kollege draußen nicht sehen kann. Und wieder einmal bin ich umsonst (ohne zu bezahlen, nicht umsonst!) wo hineingekommen. Er zeigt mir wo ich zelten kann und sagt mir wann ich morgen wieder da sein soll, um mit ihm zurück in die nächste Ortschaft zu fahren.
Wieder einmal war ich fast mehr von den Menschen fasziniert, als von der atemberaubenden Landschaft. Ich habe dann aber trotzdem irgendwo etwas in eine Spendenkasse geworfen. Das war es mir wert!
Amerika ist tatsächlich ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Die Vielfalt an Typen, die Weite der Landschaften, die Menge der Erlebnisse die man von dort mitbringt ist unglaublich. Teilweise auch der Mangel an Wissen.
Man hört diese Geschichten immer wieder, und ich konnte es nicht glauben, bis sie auch mir passiert sind. Zum Beispiel die Frage ob Hitler noch lebt, und was er zwischenzeitlich so treibt. Ja, sie wurde mir gestellt! Ob die „German Autobahn“ tatsächlich ein 1000 Kilometer langer Speedstrip von Hamburg nach München ist (gut, dieses Missverständnis sei verziehen). Oder, ob ich wüsste was eine CD ist. Es ist müßig, einem Amerikaner zu erklären, dass die CD in Deutschland entwickelt wurde. Er würde es nicht verstehen.
Ich habe im Gegenzug dazu nicht verstanden, dass es sich bei diesem Land zwar um die weltweite Militärmacht Nummer eins handelt, man aber im Kaufhaus seines Vertrauens immer noch die gute alte Wäschemangel angeboten bekommt.
Ein junger Mann fragte mich an einem Busbahnhof in Kalifornien, wo ich herkomme. Ich sagte, „ungefähr 9000 Kilometer östlich von hier.“ Seine Antwort: „Ach, New York!“
Lachen oder weinen? Ich weiß es nicht.
Aber es gibt auch immer wieder diese Momente, die einem einen wohligen Schauer über den Rücken jagen.
Im Yosemite Nationalpark lief eine Grizzly-Mama mit ihrem Jungen keine 20 Meter von mir entfernt durch den Wald. Nicht ganz ungefährlich, aber dafür unvergesslich. Den Planeten kochen zu sehen, und zu merken, auf was für einem Feuerball man lebt eröffnet im Yellowstone Nationalpark ungeahnte Erkenntnisse. Und wenn dann noch eine ganze Bison-Herde auf Armlänge an einem vorbeizieht, dann hat der Tag einen sicheren Platz in den „Best Moments in Life“. Die vielen Menschen, die mich ohne weiteres in ihren Autos mitgenommen, oder zum Essen eingeladen haben. Diejenigen, auf deren Grundstück ich mein Zelt aufbauen durfte, oder die mich zum Essen eingeladen haben, weil sie meine Geschichte hören wollten.
Die Momente, in denen man das Alleinsein zu schätzen lernt wie damals, als ich nachts mitten in der Wüste von Nevada lag, nur mit dem Schlafsack auf dem Steinboden, und ein Rudel Coyoten postkartenverdächtig den Vollmond anheulte. Den Moment als ich mir nicht sicher war, ob das Ding da über mir nur eine langgezogene Wolke ist, oder tatsächlich die Milchstraße, die sich von einem Horizont zum anderen quer über den ganzen Himmel zieht. Oder der Tag, an dem ich vor Faszination erstarrt eine Stunde fast bewegungslos am Nordrand des Grand Canyon saß, und mich einfach nicht satt sehen konnte.
Es gibt viele solcher Momente, und allein ihre Aufzählung könnte ein ganzes Buch füllen. (Habe ich erzählt, wie ich in Moab / Utah vergeblich nach einem Briefkasten für meine Postkarten gesucht habe? Man erklärte mir, dass die Menschen hier unglaubliche Angst vor Briefbomben hätten, und dass ich meine Ansichtskarten schon direkt zum Postbüro tragen müsse.)
Einige dieser Momente verstecken sich über die Jahre irgendwo im Ablagefach des Langzeitgedächtnisses, um Platz für Neues zu machen. Zum geeigneten Moment kommen sie aber unter Garantie wieder hervorgekrochen.
Da gibt es allerdings etwas worauf mir fast täglich im Fernsehen die Nase gestoßen wird. Haben Sie sich bei den diversen US-Serien nicht auch schon immer gefragt, warum da jeder jeden kennt? Der Sheriff die Ärztin, die Ärztin den Hausmeister der Grundschule, der Hausmeister den Bürgermeister, und der wiederum ist der Liebhaber der Ärztin, die eigentlich mit dem Besitzer des Tante-Emma-Ladens verheiratet ist. Wie realistisch! Nun, es ist tatsächlich so. Sieht man mal von der Handvoll Ballungszentren ab (also Ostküste, Teile der Westküste und die Hochburgen der Automobilindustrie um Detroit), dann leben unsere amerikanischen Freunde in der tiefsten Provinz. Da ist man spießig, fromm und konservativ (zumindest vorne rum), hält die Welt brav für eine Scheibe, und schert sich einen ***** um das, was im Nachbarstaat geschieht.
Orte wie Manhattan, Las Vegas oder Los Angeles geben dem Wahnsinn zwar einen Namen, haben eine unglaubliche Anziehungskraft und einen scheinbar unerschöpflichen Schatz an Superlativen. Trotzdem müssen Sie nicht so weit reisen, nur um ein paar überdimensionierte Leuchtreklamen im Betondschungel zu sehen. Gut, es ist ihre Entscheidung. Mein Antrieb weiterhin auf diese Art zu reisen waren die Menschen die ich getroffen habe, die unglaubliche Weite und der Einfallsreichtum der Natur, und die Möglichkeit alles ganz ungestört zu erleben. Ich hatte mir die Krankheit eingefangen, für die es keine Pille und keine Impfung gibt – das Reisefieber.
Amerika ist vielleicht EIN Land, aber nicht zwingend DAS Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Ist die Neugier einmal geweckt, dann steht einem die Welt offen.
Und diese Neugier führte mich als nächstes nach Mittelamerika.