Donnerstag, 27. Juni 2013

Mittelamerika Abschluss

Hier mal wieder ein Text aus meinem Buch, der das Kapitel Mittelamerika vorerst zum Abschluss bringt. 
Lest vielleicht vorher noch einmal die letzten Texte zu meinen Reisen von Guatemala nach Costa Rica. Ist ja schon ein bisschen her. 
Hier jetzt ein paar Gedanken, bevor es dann nach Südamerika weitergeht. 


Man mag den Menschen in diesen Ländern unterstellen, daß sie mit Ihrer Lage nur zufrieden sind, weil sie es nicht anders kennen. Dem muß man zwei Argumente entgegenhalten: 
Erstens muß man ehrlicherweise sagen, daß sie bestimmt nicht immer zufrieden sind. Das zu glauben wäre extrem blauäugig. Nicht umsonst arbeiten Tausende Frauen in den USA illegal als Kindermädchen, nicht umsonst versuchen Kinder trotz wiederholter Abschiebung immer wieder über Mexiko in die Staaten zu kommen. Die unglaubliche Menge Obdachloser in amerikanischen Grenzstädten malt ein grauenhaftes und beschämendes Bild. Trotzdem machen diese Menschen so weit als möglich das Beste aus Ihrer Situation. Ich habe Slums in Guatemala und Brasilien gesehen. Nie hat jemand gejammert. Der Stolz und die Mentalität lassen es nicht dazu kommen. Eine Gabe, die uns abgeht. Wir jammern lieber auf hohem Niveau.

Zweitens muß man feststellen, daß die Menschen in sogenannten Entwicklungsländern nicht so unwissend sind wie wir vielleicht glauben. Ein Dorfbewohner im tiefsten Nicaragua weiß vermutlich mehr über die Welt, als ein verwöhnter Amerikaner in Manhattan. Es ist Jahre her, da kam ich an der Karibikküste von Honduras in ein kleines Dorf. Die Menschen waren extrem dunkelhäutig, sie waren die Nachfahren entflohener Sklaven aus dem 18. Jahrhundert. Touristen verirren sich so gut wie nie in dieses Dorf, und nichts deutet darauf hin, daß man sich hier für irgend etwas interessiert was über den eigenen Acker hinausgeht. Ich wurde in eine der Hütten zum Kaffee eingeladen, die Sau wurde vom Sofa verscheucht, und wir kamen ins Gespräch. Der Sohn der Familie war vor Jahren von zu Hause ausgerissen, und war als Schiffsjunge um die halbe Welt getingelt. Die Eltern waren nicht im geringsten verärgert. Im Gegenteil. Von dem Wissen das Sohnemann mit zurückgebracht hatte profitiert heute das ganze Dorf. Das beginnt bei einigen Brocken Englisch, Französisch und Italienisch, geht weiter bei einem recht ausgeprägten Interesse an der europäischen Politik und Wirtschaft, und gipfelte in einer Diskussion über die deutsche Fußballbundesliga. Die Männer trafen sich sogar regelmäßig vor dem einzigen vorhandenen Fernseher, um die Liga zu verfolgen. Sollten Sie einmal in einer Quizshow sitzen, wählen Sie für den Bereich Sport einen Telefonjoker in Honduras! 
Machen Sie also nie den Fehler die Menschen in ärmeren Ländern als Hinterwäldler anzusehen. Eine Gesunde Neugierde ist die Mutter allen Wissens! Nur weil jemand eine Volkstracht trägt muss er nicht von gestern sein. Und auch das ist etwas, das mich an Guatemala und Honduras fasziniert hat. Trotz den fanatischen christlich-spanischen Eroberern, trotz des Genozids während der Kriege, trotz der großen Zeitspanne zwischen den Ursprüngen und der Moderne, trotz all dieser Faktoren ist die Kultur der Maya noch lebendig. Die Menschen vergessen Ihre Wurzeln nicht, ihre Götter, ihre Bräuche. Nur in Deutschland setzt man offenbar alles daran die eigene Sprache, die eigenen Traditionen und Bräuche schnellstmöglich abzuschaffen. Woher das kommt sollen andere klären, ich halte es nur nicht für sinnvoll. Traditionen, Weißheiten, Umgangsformen die über Jahrhunderte gewachsen sind haben meistens einen Sinn. In der Regel dienen sie dem zwischenmenschlichen Miteinander. Wer jetzt sagt „Mensch, der redet wie mein Opa“, der dürfte genau auf dem richtigen Pfad sein. Ich fühle mich dadurch nur bestätigt. Denn meistens haben nur die Alten den Weitblick und die Erfahrung, um solche Phänomene zu erkennen. Und auch bei uns wird die Zeit kommen, in der man Alter (und die daraus resultierende Erfahrung) wieder zu schätzen weiß, in der Menschen nicht als „zu alt“ empfunden werden um mitreden zu können. Was Weisheit angeht, so kann man gar nicht alt genug sein. Neue Trends und wissenschaftliche Errungenschaften sind eine Sache, ein lebenslanger Erfahrungsschatz eine andere. Selbst die Werbung hat das schon erkannt: „Das 24-bändige Lexikon, 300 Euro. Wissen wo es steht, unbezahlbar.“

Ich hatte früher in diesem Buch schon mehrmals meine Erlebnisse in Nicaragua angesprochen. Für mich wurde dieses Land in mehrfacher Hinsicht ein Symbol. Dafür, dass man Menschen nicht sofort aburteilen soll, dafür, dass sich Dinge verändern können. Als ich 1996 zum ersten Mal nach Nicaragua kam war der Bürgerkrieg noch nicht allzu lange vorbei. Gut, das Friedensabkommen war bereits 1988 unterzeichnet worden, aber Papier ist geduldig. Bis sich alte Gewohnheiten – und seien sie noch so unschön – abschleifen, kann es schon mal etwas dauern. Mein erster Eindruck war damals: ein kaputtes Land voller Mißtrauen und Argwohn, in dem die Menschen wenig mehr gelernt haben als eine Waffe zu halten, und niemandem zu trauen. Wo immer ich hinkam waren die Menschen einsilbig, es wurde selten gelacht, und ich hatte permanent das Gefühl, dass man mich schnellstmöglich wieder loswerden wollte. Fast jeder Reisende wußte damals von Überfällen in der Hauptstadt Managua zu berichten, als Fremder ging man mit mehr als einem offenen Auge durch die Straßen. 
Der seltsame Umgang mit den Menschen legte sich natürlich auf die allgemeine Stimmung, und so konnte ich dem Land nur wenig abgewinnen. Die vielen alten, zerstörten und heruntergekommenen Gebäude taten ihr Übriges. Ich hätte dieses Land nie und nimmer als Reiseziel weiterempfohlen. Und das, obwohl Nicaragua wunderschöne Ecken hat. Das habe ich dann eingehender erst knapp zehn Jahre später erfahren, als ich 2005 wieder in diese Ecke der Welt kam. 
Wieder war ich über Guatemala und Honduras nach Nicaragua gekommen, wieder war ich von den Menschen, der Kultur und der Natur dieser beiden Nationen völlig begeistert, und wieder war ich neugierig auf Nicaragua. Diese Neugier sah allerdings etwas anders aus als 1996. Damals hatte ich mein Wissen nur aus Büchern, die nicht unbedingt für einen Urlauber meines Schlages geschrieben waren. Ich wußte vom Krieg, kannte die Eckdaten, war aber noch nie mit Menschen in einer solchen Situation zusammengetroffen. Mittlerweile hatte sich meine Ausgangsposition grundlegend verändert. Ich kannte wieder einmal die Grundsituation aus der Literatur und den Medien, ich hatte aber auch noch meine Erfahrungen vom letzten Mal im Kopf. Je näher ich der Grenze kam, um so intensiver lief dieser neun Jahre alte Film vor meinem inneren Auge ab. Und je öfter ich ihn „sah“ um so größer wurde meine Ungeduld.
War immer noch alles genauso wie damals? War mein Eindruck richtig? Sind die Menschen dort eben einfach so abweisend? Muß man mit dieser Mentalität leben? Ist ein erneuter Trip in dieses Land pure Zeitverschwendung, oder eine Reise zur Erkenntnis?
Ich sollte in jeder Hinsicht positiv überrascht werden. 
Die Menschen waren wie ausgewechselt, die Häuser wieder hergerichtet, der Umgang freundlich. Ich hatte den Eindruck in einem ganz anderen Land gelandet zu sein. Neun Jahre, und alles war anders! Alles und jeder – ohne Ausnahme – hat eine zweite Chance verdient. Das habe ich damals gelernt. Sicher, wenn Ihnen die Alpen oder der Himalaya heute zu steil sind, dann wird das in neun Jahren nicht anders sein. Vielleicht kann Ihnen ein Geologe die Erosionsgeschwindigkeit von Granit und Schiefer erklären. Aber vielleicht gehen Sie nach ein paar Jahren Bedenkzeit unter anderen Vorzeichen über dieses Felsgestein. Geben Sie also nicht nur allem und jedem eine zweite Chance, geben Sie sie auch sich selbst. 
Ich habe Silvester auf der Vulkaninsel Ometepe mitten im Lake Nicaragua verbracht, und mich mit den Einheimischen am Rum betrunken. Ich habe einen völlig vernebelten Vulkan bestiegen ohne das geringste zu sehen, wäre fast auf dem Rückweg mit der Fähre abgesoffen und mußte stundenlang laufen, weil weit und breit nicht der geringste motorisierte Untersatz zu finden war. Und wissen Sie was? Ich möchte keine Sekunden missen und werde in den nächsten Jahren mit absoluter Sicherheit wieder dort hin fahren. Jetzt - nach dem zweiten Mal – kann ich sagen: Nicaragua ist mehr als eine Reise wert! Meine nächste Reise dorthin wird in den wenig erschlossenen Nordostteil gehen. Ups, schon zu viel verraten! Sagen Sie es nicht weiter! Mit ein bißchen Glück laufen wir uns vielleicht dort über den Weg.